Wohnsitze
Ein Spaziergang auf den Spuren des Kollegs
Stadtrundgänge durch Rom gibt es viele. So kann man sich auf die Spuren der Antike begeben, oder man kann versuchen, die scheinbar unendliche Zahl der römischen Kirchen zu bewältigen, um dabei mehr oder weniger schnell mit den eigenen Grenzen konfrontiert zu werden, man kann aber auch Museum für Museum oder Park für Park abarbeiten, um schließlich doch feststellen zu müssen, daß man immer noch nicht mit dieser so an Sehenswürdigem gesegneten Stadt am Ende ist.
Die wechselhafte Geschichte des Collegium Germanicum et Hungaricum bringt es mit sich, daß sich die Spuren des Kollegs über die gesamte Stadt wie ein feines Netz spannen. Angefangen bei den verschiedensten Palazzi, die einstmals das Kolleg beherbergten, über die eine oder andere Darstellung des typischen Germanikers in seinem nicht gerade unauffälligen roten Talar bis hin zu etlichen Grabstätten von Germanikern, die bis über die Stadtgrenzen hinaus zu finden sind, zeigt es sich, daß das Kolleg – seit es existiert – an der Stadt Rom nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist. Genau dies läßt eine Spurensuche durchaus lohnenswert erscheinen und fügt schließlich den ungezählten Weisen, die Stadt Rom zu erkunden, wiederum eine neue hinzu.
In diesem Sinne starten wir also an einem klaren Frühlingsmorgen vom Kolleg aus – mit der Fotokamera und einigen Atac-Biglietti ausgerüstet – und treten auf die noch ganz im finsteren Schatten liegende Via di San Nicola da Tolentino. Auf der Via Bissolati blendet uns völlig unvermittelt die grelle Morgensonne, aber bis wir die gegenüberliegende Straßenseite durch den fließenden Verkehr hindurch erreicht haben, verfügen unsere Augen bereits wieder über ihre gewohnte Sehkraft, während unsere Ohren allerdings gerade damit beschäftigt sind, den gewaltsamen Lärmpegel des Verkehrs in belangloses Hintergrundrauschen umzuwandeln. An der Bushaltestelle vor dem Eingang des Kinos „Fiamma“ warten wir geduldig auf die 175, die uns zur Kirche S. Saba – unserem ersten Ziel – bringen soll, und die nach einer gewissen Zeit auch tatsächlich kommt. Da der Fahrer bereits während des Abbremsvorganges die Türen öffnet und auch sonst nicht gerade den Eindruck vermittelt, anhalten zu wollen, springen wir kurzerhand auf den noch bzw. schon wieder fahrenden Bus auf. Glücklicherweise ist noch ein Sitzplatz frei, wobei der Fahrstil des Busfahrers, der offensichtlich nur Vollgas und Vollbremsung kennt, dafür sorgt, daß das Erreichen dieses Platzes einer akrobatischen Übung gleichkommt. Umschwirrt von unzähligen Motorini passiert der Bus sodann die Piazza Barberini, quält sich durch den Berufsverkehr auf der Via del Tritone, um dann – nach einem kurzen Abstecher über die Piazza S. Silvestro (mit dem römischen Hauptpostamt) – über die Via del Corso in Richtung Piazza Venezia zu fahren, über der monumental das Monumento a Vittorio Emanuele II. in die Höhe ragt. Weiter geht es über die Via dei Fori Imperiali zum Kolosseum, an dem echte römische Legionäre die ersten Touristen des Tages zu lustigen Erinnerungsfotos einladen, von dort aus am Circo Massimo vorbei und weiter über ein Stück des noch verschlafen wirkenden Aventins, um dann schließlich, die breite Viale Aventino überquerend, die Via di S. Saba zu erreichen. Mit einem kühnen Sprung verlassen wir den Bus und begeben uns in die Kirche S. Saba, indem wir, da der Haupteingang verschlossen ist, diese einmal umrunden und sie über einen kleinen Hof durch den Nebeneingang betreten. S. Saba ist gemeinsam mit einigen anderen dazugehörigen Gütern 1573 durch die Bulle Postquam Deo placuit von Gregor XIII. in den Besitz des Kollegs übergegangen und bietet dem Betrachter vor allem sehr sehenswerte mittelalterliche Fresken. Interessant für unsere Spurensuche ist allerdings ein Bild, das sich im Inneren der Kirche direkt über dem Windfang des Haupteinganges befindet. Auf ihm ist sehr wahrscheinlich der hl. Ignatius dargestellt, der vor der Gottesmutter mit dem Kind kniet. Links von ihm befinden sich – und dies ist aufgrund der schwierigen Lichtverhältnisse in der Kirche und der dunklen Farben des Bildes eher zu erahnen als zu erkennen – eine oder mehrere kleine Gestalten in den für die Germaniker typischen roten Talaren. Nach einer ausgiebigen Betrachtung des Bildes, auf dem es weiter noch einige fröhliche Putten zu sehen gibt, verlassen wir die Kirche auf demselben Wege, wie wir sie betreten haben, und begeben uns wieder zur Bushaltestelle der 175 – diesmal allerdings in Gegenrichtung, da wir zurück bis zur Piazza Venezia fahren wollen.
Der Bus kommt auch sofort, was bedeutet, daß wir, ohne ein neues Biglietto lösen zu müssen, problemlos bis zur Piazza Venezia kommen. Bedenken, das noch gültige Ticket könnte bereits während der Fahrt ablaufen, werden durch den zügig-sportlichen Fahrstil des Fahrers zerstreut. An der Piazza Venezia angekommen, steigen wir aus und gehen von dort aus auf dem Corso Vittorio Emanuele bis zur Kirche Al Gesu.
Im Mittelpunkt unseres Interesses steht nicht so sehr die wunderbare Kirche selber, sondern vielmehr der rechts von ihr befindliche Palazzo „Al Gesu“, der von 1819 bis 1851 dem Kolleg als Wohnsitz diente. Sehr sehenswert in diesem von 1599-1623 errichteten Jesuitenkolleg sind die sogenannten Camerette: vier Räume, in denen der hl. Ignatius lebte, in denen er die Konstitutionen des von ihm gegründeten Ordens niederschrieb und in denen er zuletzt auch starb. Während der Bauarbeiten für das neue Kolleg (1939 bis 1944) beherbergte dieser Palazzo schließlich noch einmal die Germaniker.
Um die nächste Spur des Kollegs aufzustöbern, brauchen wir nicht allzuweit gehen. Wir kämpfen uns lediglich durch den mittlerweile von gehetzten Einwohnern und behäbig daherschreitenden Touristen überquellenden Bürgersteig des Corso Vittorio Emanuele in Richtung Largo di Torre Argentina, passieren das dort (einige Meter unter uns) befindliche Republikanische Forum, ein Platz, der wie sonst kaum ein anderer in dieser Stadt das, was das gestrige und das heutige Rom charakterisiert, auf einen Ort verdichtet, und erreichen wenig später S. Andrea della Valle. Auch hier ist es wieder nicht die Kirche, die uns unmittelbar interessiert, sondern vielmehr der ihr gegenüberliegende Palazzo della Valle.
Wohnsitz des Kollegs war er im Jahre 1573, bevor es für den Zeitraum von über 200 Jahren in den Palazzo von S. Apollinare umzog. 31 Alumnen zogen damals in den Palazzo della Valle, unter ihnen übrigens auch Robert Johnson. Links neben dem Haupteingang befindet sich die „Bar Valle“, der wir selbstverständlich einen kleinen Besuch abstatten – natürlich nur, um unsere Verbundenheit mit diesem Ort zu zeigen. Umso besser schmecken dann auch Cornetto und Cappuccino.
Nach dieser kleinen Stärkung werfen wir uns wieder in das Getümmel der Stadt. Nächstes Ziel soll der Vatikan sein. Auf dem Corso Vittorio Emanuele begeben wir uns zur nächsten Bushaltestelle (wir befinden uns bereits auf der richtigen Straßenseite) und warten auf die 64, die uns bis zum Largo di Porta Cavalleggeri bringen soll. Als der Bus schließlich kommt, wagen wir erneut den bereits erprobten Sprung in das noch rollende Gefährt, was sich dieses Mal allerdings als Fehler erweist, da der Bus derart überfüllt ist, daß wir nur mit größter Anstrengung unser Gleichgewicht auf der untersten Stufe halten können, um nicht gleich wieder auf die Straße zu fallen. Eingequetscht zwischen Tür und eng aneinandergedrängten Fahrgästen geht es sodann vorbei an der Chiesa Nouva, die wir nur aus einem Augenwinkel erspähen, weiter über den Tiber, der sich gelassen und völlig unberührt durch das ihn umflutende Verkehrschaos windet, schließlich in einem Tunnel unter dem Gianicolo hinweg direkt zum Largo di Porta Cavalleggeri, wo wir erleichtert den Bus verlassen.
Genau gesagt interessiert uns heute im Rahmen unserer Spurensuche nur der Friedhof des Campo Santo Teutonico, auf dem es einige verstreute Germanikergräber zu finden gibt. Als erstes fällt beim Betreten des Friedhofes die wohltuende plötzliche Ruhe und die schattige Kühle auf. Wir gehen vom Eingangstor direkt den schmalen Weg zum Mittelpunkt des Friedhofes vor, wo wir unmittelbar vor der Kreuzung der beiden Hauptwege auf die erste Grabplatte stoßen.
Bei genauerer Betrachtung der Namen fällt uns besonders unten rechts ein Name auf: Edgar Leibfried, dessen Todesdatum mit dem Vermerk „sul Monte Velino“ versehen ist – jener Germaniker also, der auf tragische Art und Weise 1947 bei einer Bergtour ums Leben kam und dessen Geschichte heute noch im Kolleg – meist im Zusammenhang mit vielen anderen Bergerlebnissen – erzählt wird. Auch auf P. Biermann, J. Coassini und N. Debreczenyi ist hinzuweisen, die Mitglieder im sogenannten „Sozialzirkel“ des Kollegs waren. An der kleinen Kreuzung in der Mitte wenden wir uns nach rechts, wo sich auf dem Boden noch eine weitere Grabstätte befindet. Einige weitere einzelne Grabplatten finden wir noch in dem Gang, der direkt an das Kolleg des Campo Santo grenzt.
Leider müssen wir den Friedhof schneller wieder verlassen, als uns lieb ist, da die Tore des Friedhofs aus Sicherheitsgründen geschlossen werden sollen: für eine Audienz in der Aula Paolo VI. wird der Hl. Vater alsbald diese Stelle passieren. Also verlassen wir das Gelände des Vatikan, wobei wir einige Mühe haben, uns durch die uns entgegenkommenden und in die Aula strömenden Pilger durchzukämpfen.
Vom Petersplatz aus begeben wir uns jetzt auf einen kleinen Spaziergang bis zu unserem nächsten Ziel – S. Apollinare. Wir gehen die Via della Conciliazione entlang, auf der wir die bereits nicht geringe Kraft der Frühlingssonne spüren, dann weiter bis zur Engelsburg, um dort über die Engelsbrücke den Tiber zu überqueren, und durchschreiten schließlich die Via dei Coronari, auf der uns „antike“ Kostbarkeiten und Edelmöbel in vielen kleinen Geschäften angeboten werden, die sich dann auch in der Tat durch zwar fehlende Preisangabe, jedoch Verweis auf Katalognummern diverser renommierter Auktionshäuser als unerschwinglich erweisen.
So kommen wir zum Palazzo und der Kirche S. Apollinare. Der Palazzo war Wohnsitz des Kollegs von 1574 bis 1798, damit also die längste stabile Wohnperiode in der Geschichte des Kollegs. Berühmt geworden sind die in S. Apollinare durch die Germaniker feierlich gestalteten Liturgien, die bekanntlich von hohem musikalischen Niveau gewesen sind. Heute ist der Palazzo Sitz der von Opus Dei geleiteten Universität „Santa Croce“. Wir haben Glück, da die Kirche gerade offen ist. Auch hier gibt es noch einige Grabstätten, so z.B. in der letzten Kapelle auf der rechten Seite des Kirchenschiffes. Außerdem finden wir hier an nicht genau bekannter Stelle das Grab des bekannten Musikers Giacomo Carissimi.
Im Altarraum entdecken wir noch zwei Grabplatten, auf denen wir ebenfalls den Schriftzug „Germanicum et Hungaricum“ erkennen, bevor wir aber zu einer näheren Betrachtung kommen, verscheucht uns ein ganz plötzlich aufgetauchter Küster, der dann aber ebenso schnell wie er gekommen auch wieder verschwunden ist. So verweilen wir noch einen Moment in der nüchternen Stille dieser Kirche, um diese dann durch den Innenhof des Palazzo Apollinare zu verlassen.
Über die bevölkerte Piazza Navona, auf der nach der unwirklichen Ruhe des Januars die Zahl der Touristen wieder größer als die der Tauben ist, geht es, den Corso Rinascimento überquerend, weiter zum Pantheon, an dem (wie übrigens auch auf der Piazza Navona) auf dem Boden robbende Soldaten mit knatterndem Maschinengewehr sowie goldig-miauende Plüschkätzchen als romantische Urlaubserinnerung erworben werden können.
Die nächste Spur führt uns in die Via del Seminario, an deren Ende wir uns – kurz vor der Piazza di S. Ignazio – auf der linken Straßenseite dem Palazzo Borromeo zuwenden. Dem Kolleg diente dieser Palazzo, in dem sich heute das Collegio S. Bellarmino der Gesellschaft Jesu befindet, als Wohnstatt von 1851 bis 1886 (bevor das Kolleg das erste Mal in die Via di San Nicola da Tolentino zog). Benannt war er damals nach seinem ersten Bewohner, dem hl. Karl Borromäus. Bis 1773 – mit der Auflösung der Gesellschaft Jesu – beherbergte der Palazzo das Seminarium Romanum. Das Gebäude, das seit der Revolution von 1848 in der Hand der Regierung war, wurde zu einigen Teilen noch bis 1866 von Soldaten bewohnt, was das Leben für die damaligen Germaniker nicht gerade leicht machte. Das von außen eher düster anmutende Gebäude erweist sich, nachdem wir um Einlaß gebeten und diesen auch nach dem Vorbringen unseres Anliegens mit einem freundlichen „Bitte!“ erhalten haben, in seinem Inneren als sehr hell und angenehm.
Danach treten wir wieder auf die dunkle Gasse und nehmen unser nächstes Ziel in Angriff: die Piazza dei SS. Apostoli. Dazu passieren wir S. Ignazio, nicht ohne die obligatorischen Werbeposter studiert zu haben, die für den Abend ein wie gewohnt zu Herzen gehendes geistliches Konzert eines engagierten amerikanischen Kirchenchores anpreisen. Weiter geht es hinweg über die Via del Corso, von der uns nur noch zwei Gassen von der Piazza dei SS. Apostoli trennen.
Dort angekommen weckt der Palazzo Colonna unsere Aufmerksamkeit, der sich an der linken Seite der Kirche Dodici Apostoli befindet. Das Kolleg hatte hier seinen Wohnsitz von 1570 bis 1573, bevor es, da die Zahl der Alumnen zu dieser Zeit stetig wuchs, in den Palazzo della Valle umgezogen ist. Der Palazzo heißt heute allerdings ebenso wie die Kirche „Dodici Apostoli“.
Nun haben wir den größten Teil unseres Stadtrundganges bewältigt und wenden uns unserem letzten Ziel zu, das in einem gewissen Grade aus dem Rahmen fällt und das wir nicht deshalb anvisieren, weil wir Hunger haben (obwohl uns nach bereits zurückgelegter Strecke bereits gehörig der Magen knurrt), sondern weil es auch dort eine Spur des Germanicum et Hungaricum zu finden gibt: Es geht zum McDonald’s an der Spanischen Treppe. Von der Piazza dei SS. Dodici Apostoli aus gehen wir über die Piazza della Pilotta, begeben uns diesmal nicht in die Gregoriana, sondern lassen diese rechts liegen, gehen weiter in Richtung Via del Tritone an der Fontana di Trevi vorbei, wo wir einem Rosenverkäufer geschickt ausweichen, um durch dieses Manöver allerdings dem Verkäufer origineller Kopfbedeckungen direkt in die Arme zu laufen, schließlich über die Via due Macelli, an deren Ende sich die Piazza di Spagna befindet. Noch vor der eigentlichen Spanischen Treppe liegt auf der rechten Straßenseite jener McDonald’s, der von sich behauptet, nicht nur der erste seiner Art Italiens, sondern auch der schönste der Welt zu sein. Im Rahmen dessen, was McDonald’s unter den Begriff Ästhetik fassen mag, erscheinen die die Wände verzierenden Fresken, auf denen römische Ansichten zu sehen sind, zumindest recht nett. Schnell haben wir auch das Gesuchte gefunden: auf der rechten Seite (vom Eingang aus gesehen) ist doch tatsächlich ein Germaniker mit rotem Talar und schwarzem Hut abgebildet!
In einem Anflug von Mitbrüderlichkeit beschließen wir, ihm zumindest ein wenig unserer Zeit zu opfern und ihm bei einem Hamburger und einer Coca Cola etwas Gesellschaft zu leisten. Wie es ihn ausgerechnet an diesen Ort verschlagen hat, kann uns leider niemand sagen, jedoch bringt uns sein heiter-gelassener Blick über die Kuppeln der Stadt auf die Idee, auf unserem Rückweg zum Kolleg den Weg über die Spanische Treppe zu nehmen und noch einmal einen Blick auf Rom zu werfen. Im Licht der bereits der Kuppel des Petersdomes entgegenwandernden Sonne, die das Häusermeer unter uns in ein warmes Rotbraun taucht, wird uns noch einmal bewußt, daß wir in der Tat einen Großteil der wichtigen und sehenswerten Punkte in der ewigen Stadt dadurch gesehen haben, daß wir einfach den Spuren des Collegium Germanicum et Hungaricum gefolgt sind.
Und so endet unser Stadtrundgang in der Via San Nicola, die bereits wieder – oder immer noch? – im dämmrigen Schatten liegt.
Auch von San Pastore aus kann man diversen Spuren des Kollegs nachgehen. Da wären die beiden Gräber auf dem Friedhof von Gallicano zu nennen, die sich, wenn man den Friedhof vom Dorf kommend betritt, an dessen hinterem Ende befinden.
Und auf der Mentorella gibt es schließlich noch eine Treppenstufe, in der der Name des Kollegs, das traditionellerweise und regelmäßig an diesen wunderbaren Wallfahrtsort pilgert, verewigt ist.
(Kursivdruck: dieses Gebäude besteht noch heute)